Dieser Text erreichte mich eben per E-Mail, der Autor wollte ihn im Spon-Forum veröffentlichen, dort erschien nach seinen Aussagen nur ein fünftel des Textes. Er bat mich, ihn hier zu veröffentlichen, was ich gerne mache. Es ist eine weitere Perspektive auf die Situation und Hintergründe der Ereignisse in der Ukraine.
Ich bin selbst Ukrainer, der zwar seit vielen Jahren in Deutschland lebt, der aber nach wie vor intensive familiäre Kontakte in die Ukraine pflegt. Die Entwicklung, die zu den derzeitigen Ereignissen in Kiew und anderswo – auch in meiner Geburtsstadt, Zhitomir – geführt hat, habe ich nicht nur durch deutsche und russische/ukrainische Medien, sondern auch durch die Augen meiner Verwandtschaft und weiterer Kontakte in der Ukraine, etwa ehemaliger Schulkameraden und Kommilitonen meiner Eltern, mitbekommen. Dabei sind die Perspektiven sehr verschiedene: ein Familienzweig lebt in ländlich-bäuerlichen Verhältnissen (kein fließend Wasser, kein Strom, Hühner, zwei Schweine etc.), ein anderer in der Stadt (ehemalige Industriearbeiter, heute – wie so viele – Tagelöhner), noch ein Familienzweig lebt in Kiew, die Kinder studieren, eine gute Freundin ist Journalistin bei einer Kiewer Tageszeitung.
Die Informationslage darf ich also getrost als ziemlich gut und ausgewogen betrachten.
Zum besseren Verständnis möchte ich deshalb, ausgehend von dieser guten Informationslage, ein kleines Gedankenexperiment anstellen und die dortigen Verhältnisse mal so weit wie möglich auf Deutschland übertragen:
Stellen Sie sich mal vor, Frau Dr. Angela Merkel wäre mehrfach verurteilte Straftäterin. Sie hätte Verurteilungen wegen Raub, versuchter Vergewaltigung und diversen Vermögensdelikten auf dem Kerbholz. Stellen Sie sich weiter vor, sie sei nachweisbar vor ihrer politischen „Karriere“ in kriminelle Organisationen eingebunden gewesen und hätte nach der deutschen Wiedervereinigung in großem Stil ehemaliges DDR-Volksvermögen (Fabriken, Grund und Boden, Rohstoff-Förderstätten) an sich gerissen und zu sehr sehr viel Geld gemacht. Stellen Sie sich vor, sie hätte dafür unzählige Beamte und Abgeordnete bestochen oder eingeschüchtert, Mitbewerber erpreßt oder gleich „physisch“ aus dem Weg geschafft. Mit dem so ergaunerten Geld hätte Frau Merkel sich einen Parteiapparat finanziert, über den sie sich in diverse Regionalparlamente wählen läßt. Kaum in Amt und Würden, würde Frau Merkel sich aus dem Haushalt je nach Bedarf Sonderzahlungen genehmigen, würde öffentliche Aufträge nur noch an eigene Firmen vergeben – oder an die Firmen von Abgeordneten, deren Stimmen sie braucht, um unter dem Feigenblatt der parlamentarischen Legitimation immer weitere öffentliche Aufträge vergeben zu können, und diese mit Steuergeld bezahlen zu können. Selbstverständlich würde Frau Merkel selbst keine Steuern zahlen; sie hätte die Exekutive und Judikative aber so vollständig unter Kontrolle, daß sie nichts zu befürchten hätte.
Vielleicht denken Sie jetzt: Na gut, das ist – mit Ausnahme der persönlichen kriminellen Vorgeschichte – von der Realität in Deutschland nicht allzu weit entfernt, und daß es im Osten schon immer ein bißchen wilder zuging, ist ja kein Geheimnis.
Stellen Sie sich aber weiter vor, von all diesen vergebenen öffentlichen Aufträgen würde kein einziger tatsächlich durchgeführt. Selbst wenn mal eine „potemkinsche Baustelle“ errichtet wird, um der Presse etwas vorzeigen zu können, werden die Bauarbeiten nie zu Ende gebracht. Selbst wenn tatsächlich Baumaterialien angeschafft werden, etwa weil wichtige öffentliche Gebäude saniert werden müssen, werden diese Materialien von der Baustelle weg verkauft, das Geld stecken sich die Bauleiter in die Tasche, und ein Anteil landet wieder bei Frau Merkel. Und wenn dann mit den verbliebenen völlig unzureichenden Baumaterialien das Projekt nach vielen vielen Jahren beendet wird, muß schon der nächste Sanierungsauftrag ausgeschrieben werden, weil alles bröckelt – und wieder können sich Frau Merkel, ihre Abgeordneten und ihre Bauleiter die Taschen mit Steuergeld vollmachen.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich Frau Merkel aber bereits mit der Unterstützung ihrer Unternehmerkumpels, die sie mit Steuergeld so lange gemästet hat, zur Bundeskanzlerin wählen lassen und hat nunmehr Zugriff auf die Steuerzahlungen des ganzen Landes. Mittels feigenblattartiger Parlamentsbeschlüsse läßt sie immer mehr Geld an sich, ihre Familie und ihre Partner auszahlen. Die öffentliche Verwaltung steht weitestgehend still, weil alles Geld, was reinkommt, sofort an die Politiker ausgezahlt wird – und zwar wirklich alles. Braucht man etwas von einer Behörde, muß man den jeweiligen Beamten bestechen, sonst geschieht nichts. Frau Merkel weiß das, denn auf ihrer Ebene funktioniert das genauso: Gegen Zahlungen oder Gefälligkeiten ist sie völlig ohne Skrupel bereit, Gesetze zu ändern oder zu erlassen, wie es dem vermögenden Bittsteller gerade paßt.
Nun muß natürlich aber auch das Land irgendwie notdürftig verwaltet werden. Die Menschen brauchen Gas zum Heizen, Strom und fließend Wasser zum Leben, und zumindest eine rudimentäre Infrastruktur, um überhaupt irgendwelchen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen zu können. Um diese Grundbedürfnisse decken zu können, handelt Frau Merkel Kredite mit dem Gaslieferanten Rußland aus, mit Kraftwerksbetreibern aus diversen EU-Ländern, die Wasserversorgung wird privatisiert, damit die Betreiber sich das Geld direkt von den Bürgern holen können und der Strom an Steuergeld nicht versiegt.
Ersetzen Sie Frau Merkel durch Janukowitsch – und Sie haben eine grobe Vorstellung von den Verhältnissen in der Ukraine. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind Bürger in einem solchen Land. All die oben geschilderten Vorgänge laufen praktisch an der Oberfläche ab, jeder weiß Bescheid. Die politische Führung, ob auf nationaler oder auf regionaler Ebene, steckt sich die von Ihnen erhobenen Steuern nahezu vollständig in die Taschen. Das geschieht völlig dreist und schamlos, einige Regionalpolitiker machen überhaupt keinen Hehl daraus und brüsten sich sogar mit ihren Betrügereien – in der Zeitung. Die Infrastruktur verfällt indes immer mehr, Strom und fließendes Wasser rund um die Uhr sind selbst in städtischen Gebieten beileibe keine Selbstverständlichkeit. Im Endeffekt weiß jeder einzelne Bürger, daß er über die Steuererhebung, aber auch über diverse Sonderabgaben schamlos beklaut wird. Geld zum Leben bleibt kaum, die Einkommen sind zwergenhaft klein – wenn man überhaupt Arbeit hat und der Lohn gezahlt wird. Auch kleinere Unternehmer, der Mittelstand, nagen am Hungertuch, weil die Steuerlast erdrückend ist und man trotzdem nichts zurückbekommt, so daß man in die grundlegendsten Dinge selbst investieren muß.
Zugleich ist das Gefühl völliger Allmacht und Unantastbarkeit bei den Politikern absolut allgegenwärtig. Konkurrenz braucht keiner zu fürchten – man kennt sich untereinander, es gibt zwar Differenzen, die teilweise in Wild-West-Manier geklärt werden, aber im Prinzip bleibt alles „in der Familie“. Mitbestimmung von Bürgern existiert nicht – zwar gibt es regelmäßig Wahlen, aber einen Platz auf dem Wahlzettel muß man sich für teuer Geld kaufen, schließlich bedeutet ein Sitz im Parlament den Zugang zu Steuergeldern, die man sich in die Tasche stecken kann. Passives Wahlrecht für „Normalbürger“ existiert faktisch nicht.
Und die Politiker werden immer dreister: Im Jahr 2011 machte eine Pressemeldung die Runde, wonach ein Regionalabgeordneter auf seinem riesigen Anwesen Menschenjagden veranstaltet hat. Zum Spaß. Für seine Geschäftskumpane. Er ließ sich einige Strafgefangene kommen, die auf dem Anwesen ausgesetzt wurden. Nach einer halben Stunde Vorsprung wurden diese dann von einer Jagdgesellschaft mit Jeeps und Hunden gehetzt. Überlebende – so es denn welche gab – wurden einfach wieder zurück ins Gefängnis gekarrt, bis zum nächsten „Einsatz“. So ist diese Geschichte auch an die Öffentlichkeit gedrungen. Der Abgeordnete hat sich noch nicht einmal dazu herabgelassen, die Vorwürfe zu dementieren. Einen Skandal gab es nicht – die Menschen in der Ukraine erwarten schlicht nichts anderes von ihren Volksvertretern, sie trauen denen alles zu. Die Meldung ging einfach unter, genauso wie hunderte andere ähnliche Geschichten.
Aber nach Jahren solcher Zustände ist irgendwann auch genug. Janukowitsch hat es schlicht übertrieben. Die Politiker haben wirklich das komplette Vermögen der Ukraine veruntreut, vollständig. Es ist nichts mehr da. Für die Deckung von Grundbedürfnissen müssen immer neue Kredite aufgenommen werden – die wiederum veruntreut werden, weil man Papiergeld ja schlecht zum Straßenbau verwenden kann, es müssen Aufträge vergeben werden u.s.w, s. o. Das Land wird von den Politikern sehenden Auges und völlig skrupellos in den Bankrott getrieben, Hauptsache man kann noch ein Paar U.E. („Währungseinheiten“, ein alter Begriff aus den Zeiten der Hyperinflation Anfang der Neunziger, der heute wieder immer öfter verwendet wird) abgreifen.
Die Menschen demonstrieren also nicht für Demokratie oder für Neuwahlen oder gar, wie manche glauben, für ultrarechte politische Vorstellungen. Die Menschen haben es einfach nur satt, ihr Leben lang nur bestohlen zu werden und wie die Sklaven im Dreck leben zu müssen, während die Politiker sich auf ihre Kosten ein Leben in Saus und Braus und unvorstellbarem Luxus gönnen. Sie wollen eine Regierung, die wirklich etwas Sinnvolles mit dem Steuergeld tut, die korrupte Beamte und veruntreuende Bauleiter konsequent bestraft, die das Land nicht einfach so in die Pranken Russlands übergibt gegen Gewährung persönlicher Vorteile, die nicht jedem Dollar/Euro/Rubel kopflos hinterherrennt, sondern sich wirklich um das Land bemüht.
Und vor diesem Hintergrund ist der aktuelle Kompromißvorschlag ein Desaster: Die Menschen werden niemals akzeptieren, daß die Politiker, von denen sie wissen, daß es Verbrecher sind, ungestraft davonkommen. Sie werden nicht zulassen, daß Diebe und Banditen noch bis Ende des Jahres die Regierungsgeschäfte führen, bis endlich Neuwahlen stattfinden. Die „Oppositionsführer“ werden in der Luft zerrissen, wenn sie auf der Maidan-Bühne den Menschen erklären wollen, daß sie Janukowitsch, den Mörder, Dieb, Räuber und Banditen, noch Monatelang „Präsident“ nennen sollen; Daß dieser Verbrecher, der von allen Bürgern – das ist nämlich der große gemeinsame Nenner der „Opposition“ – nur noch für Abschaum gehalten wird, die Frauen zum Weltfrauentag beglückwünschen soll, für die Orthodoxen die Osteransprache halten soll, als Oberhaupt des ukrainischen Volkes den Tag der Unabhängigkeit begehen soll, ohne für seine Verbrechen gebüßt zu haben. Das Volk wird das schlicht nicht akzeptieren, vor allem angesichts der zu beklagenden Todesopfer. Die Regierung besteht aus Verbrechern, Straftätern, die nach deutschem Recht schon längst hinter Gittern wären. Und genau das verlangen die Demonstranten: Gerechtigkeit für diejenigen, die sich viel zu lange für unantastbar gehalten haben.
Und deshalb glaube ich auch nicht an eine diplomatische Lösung. Jedem ukrainischen Politiker ist klar, daß er sich vor dem Volk wird verantworten müssen. Es geht jetzt für die Verhandelnden nur darum, die eigene Haut zu retten. Ich glaube nicht, daß Janukowitsch so verblendet ist, daß er tatsächlich glaubt, an der Macht bleiben und bei den nächsten Wahlen wieder antreten zu können. Es geht jetzt lediglich darum, Zeit zu schinden, den Menschen irgendwelche Zwischenlösungen zu präsentieren, um in der Zwischenzeit ein Exil für Janukowitsch zu finden, ein Land, das bereit ist, ihn aufzunehmen.
Aber wenn nicht bald der Rücktritt der gesamten Regierung verkündet wird und strafrechtliche Ermittlungen gegen die Abgeordenten eingeleitet werden, werden die Menschen auf dem Maidan das Recht in die eigene Hand nehmen und „Revolutionsgerichte“ abhalten. Den Ausgang kann sich jeder selbst ausmalen.
Ich hoffe, daß ich die Gemengelage in der Ukraine ein wenig aufhellen konnte, und bedanke mich bei dem geduldigen Leser. Alles Gute!“
Über eine Rückmeldung würde ich mich sehr freuen.
Beste Grüße
Pawel
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